Neidischer Blick gen Osten

Digital fortschrittlich: Einzigartiges Estland

Estland: Digital fortschrittlich. Alt und Neu liegen in Estland dicht beieinander. Kaum ein Land ist digital so fortschrittlich wie der nördlichste und kleinste der baltischen Staaten, in dem der Zugang zum Internet seit 2000 ein Grundrecht ist. So ist kostenloses WLAN in der mittelalterlichen Altstadt Tallins fast flächendeckend verfügbar.

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Land der Wälder wird der kleine Ostseeanrainer auch genannt. Estland ist in etwa so groß wie Dänemark und fast zur Hälfte von Wald bedeckt. Nur rund 1,3 Millionen Einwohner verteilen sich auf die restliche Fläche. Die meisten von ihnen wohnen in der Hauptstadt Tallinn (430.594 Einwohner). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand Estland vor der Herausforderung, den technologischen und wirtschaftlichen Rückstand gegenüber den anderen Staaten Europas aufzuholen. 1991 erklärte Estland seine Unabhängigkeit und die estnischen Bürger bewiesen Mut, eine junge Regierung zu wählen, die auf das Internet setzte und die digitale Weiterentwicklung forcierte.

Hier Zukunftsmusik, in Estland bereits Realität

Was in Deutschland noch Zukunftsmusik ist, ist in Estland seit über einem Jahrzehnt alltäglich: Mit dem 2002 eingeführten elektronischem Personalausweis und der einer realen Signatur gleichgestellten digitalen Unterschrift können Esten bequem online Verträge unterzeichnen und ihre Einkommensteuer erklären. Seit 2005 ist es in Estland auch möglich, online oder per SMS zu wählen. Bei den letzten Parlamentswahlen 2015 machten rund 31 Prozent aller Wähler von ihrem Online-Wahlrecht Gebrauch. Der estnische Staat bietet seinen Bürgern derzeit über hundert Verwaltungsakte, die mit ein paar Mausklicks erledigt werden können. So gibt es keine langen Wartezeiten bei lästigen Behördengängen. Auch ihre Bankgeschäfte erledigen die Esten am liebsten online, 2015 wurden 99,8 Prozent aller Transaktionen im Internet getätigt. In Deutschland nutzen nur rund 54 Prozent Onlinebanking. Von überall auf der Welt Einblick in die eigene Patientenakte nehmen, ist durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens seit 2010 möglich und schon 99 Prozent aller Medikamente auf Rezept werden über ein digitales Rezept bezogen.

Jaan Tallinn, der Skype-Mitbegründer

(Bild: Skype)
Jaan Tallinn ist neben Topmodel Carmen Kass das wohl bekannteste Gesicht Estlands im Ausland. Als einer der Programmierer des Instant-Messaging-Dienst Skype und des Musiktauschdienst Kazaa ist der 1972 in Tallinn geborene Philantroph und Physiker mit für den digitalen Fortschritt im kleinen, baltischen Land verantwortlich. Im Moment befasst sich Jaan Tallinn intensiv mit dem Thema künstliche Intelligenz.

Papier hat in Estland fast ausgedient, so ist die estnische Regierung seit 1999 ein digitales Kabinett. Parkscheine werden über SMS gekauft und Fahrscheine werden mit dem elektronischem Personalausweis bezahlt. Nur Touristen kaufen die Fahrkarte für den Bus noch in Papierform. Ende 2014 startete die estnische Regierung ein bisher einmaliges Projekt: E-Residency. Jeder, der über achtzehn Jahre alt ist und keine Vorstrafen hat, kann virtueller Bürger Estlands werden. Das ist besonders für Start-up-Unternehmer interessant, die so über das Internet in Estland Firmen gründen können – ohne je in Estland gewesen zu sein. Der digitale Bürger ist nicht zu verwechseln mit einem Staatsbürger.

Innovatives Estland

Es ist nicht zu bestreiten, Estland ist der digitale Vorreiter in Europa. Auf die nur rund 1,3 Millionen Einwohner kommen zwischen 500 und 700 Start-up-Unternehmen. Tallinn ist einer der bedeutendsten Standorte für IT-Unternehmen in der Welt. Nicht umsonst gilt es als das Silicon Valley Europas. In Tallin beheimatet sind zum Beispiel Playtech, einer der weltweitführenden Softwarehersteller für Online-Glückspiel und Transferwise, ein Geldtransfer-Service, der es Privatmenschen und Firmen erlaubt, Geld ohne versteckte Kosten ins Ausland zu überweisen. Auch bei Online-Spielen und Spiele-Anwendungen ist eine estnische Firma sehr erfolgreich: Creative Mobile ist der Kopf hinter Spielen wie Drag Racing und Nitro Nation Racing. Der Rekord für eine Firmengründung liegt in Estland übrigens bei 18 Minuten – natürlich online.

So haben die rund 10.000 virtuellen Esten kein Wahlrecht und auch kein Aufenthaltsrecht. Bei Transaktionen kommen die PIN-Nummer und eine 2048-Bit-Verschlüsselung zum Einsatz. Estland erhofft sich durch die Schaffung des virtuellen Bürgers natürlich einen wirtschaftlichen Standortvorteil. Die in Estland gegründeten Unternehmen profitieren vom Binnenhandel der Europäischen Union. Besonders stolz sind die Esten auf die Erfindung von Skype. Auch wenn die 2011 von Microsoft übernommene Videotelefonie-Firma in Luxemburg gegründet wurde, so stammt doch die Software von drei jungen Esten. Ahti Heinla, Priit Kasesalu und Jaan Tallinn programmierten damals den Instant-Messaging-Dienst. Heute arbeiten knapp 400 Mitarbeiter im Skype-Hauptquartier in Tallinn.

E-Estland - Die elektronische Erfolgsgeschichte Estlands:

1999 – Die papierlose Regierung wird beschlossen. Das digitale Kabinett kommt in seinen Sitzungen, die auch online stattfinden können, ohne Papier aus.

2000 – Der Zugang zum Internet wird als Grundrecht festgeschrieben. Jedem Esten steht ein gesetzlich vorgeschriebener, kostenloser Internet-Zugang zu. Deshalb gibt es in fast ganz Estland kostenlose WLAN-Hot-Spots und und 5 GB Datenvolumen über das schnelle LTE-Mobilfunknetz. Bis 2018 soll das Breitbandinternet mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von bis zu 100 MBit/s flächendeckend ausgebaut sein.

2002 – Einführung des Elektronischen Ausweises (Identifikations-Karte). Fast jeder Este verfügt über den digitalen Personalausweis. Die digitale Unterschrift ist der handschriftlichen gesetzlich gleichgestellt.

2005 – Einführung gesetzlich verbindlicher Wahlen über das Internet. Wie in Deutschland die Briefwahl funktionert in Estland das Ausfüllen des Wahlzettels per SMS oder online. Die meisten Esten wählen dennoch lieber in der Wahlkabine.

2010 – Digitaliserung des Gesundheitswesens. Patientenakten und Rezepte stehen seitdem online Patienten und Ärzten zur Verfügung. Auch in der Apotheke ist kein Rezept auf Papier mehr nötig.

2014 – Start des E-Residency-Programms. Im Mai 2016 gab es bereits zehn Tausend digitale estnische Bürger. Ziel der Regierung ist es, bis 2025 zehn Millionen virtuelle Einwohner zu gewinnen.

Tallinn wird nicht zu Unrecht das Silicon Valley Europas genannt. Die Altstadt der estnischen Haupstadt zeugt von der jahrhundertelange Fremdherrschaft des Landes. Im Mittelalter war Tallinn Mitglied der Hanse. Tallinn bedeutet „dänische Stadt“ und heißt so seit der Eroberung durch den dänischen König Waldemar im Jahr 1219. Estland stand nicht nur unter dänischer, sondern auch unter schwedischer, deutscher und russischer Herrschaft. Bis zur ersten Unabhängigkeitserklärung Estlands 1918 hieß Tallinn im deutschsprachigen Raum Reval. Tallinn wurde im Mittelalter gegründet und ist noch heute die am besten erhaltene mittelalterliche Stadt in Nordeuropa. Die Altstadt Tallins, Vanalinn, mit ihren engen Gassen, den mittelalterlichen Bauwerken, den unzähligen Wachtürmen und der Stadtmauer wurde 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Die um 1300 errichtete „Pühaviamu kirik“, die Heiliggeistkirche, ist eines der Wahrzeichen Tallinns. 2011 war Tallinn zusammen mit der finnischen Stadt Turku europäische Kulturhauptstadt. Die historische Stadt ist eine aufregende Mischung aus Mittelalter und moderner Großstadt: Mit WLAN-Hot-Spots, gläsernen Wolkenkratzern und Kopfsteinpflaster.

Wer als Besucher dabei nicht in die typischen Touristenfallen tappen will, ist mit der von Ülane Vilumets und Kalev Külaase entwickelten App „Like a Local Offline City Guide & Map“ bestens bedient. Seit 2006 arbeiten die beiden Esten an der Webseite und der mobilen Anwendung und haben es sich zur Aufgabe gemacht, Reisenden das echte Tallinn zu zeigen. „Like a Local“ funktioniert ähnlich wie andere Travelguides durch eine aktive Community, in der die Bewohner der Stadt aus dem Nähkästchen plaudern. So gibt es bereits für Tallinn, Riga und Vilnius aber auch für Berlin, Paris, Kopenhagen und für viele weitere Städte Insider-Tipps und Touren.

Herausforderungen der Digitalisierung

„NATO küberkaitsekoostöö keskus“, das NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence in Tallinn. 2008 wurde diese internationale Militärorganisation in der estnischen Hauptstadt gegründet. Hinter dem langatmigen Namen verbirgt sich ein Technologie-Zentrum, das sich mit dem Schutz vor und mit den Folgen von elektronischer Kriegsführung befasst. Dieser Krieg, der ohne Soldaten und Waffen zumeist durch Hacker-Angriffe ausgetragen wird, ist in einer zunehmend digitalisierten Welt keine Seltenheit mehr und eine akute Gefahr für die internationale Sicherheit. Neben dem Cyberwar soll das NATO CCD COE auch der Cyber-Kriminalität entgegenwirken.

Da kaum jemand Estnisch lernt, sprechen viele Esten noch weitere Sprachen. Am beliebtesten ist dabei Englisch, dicht gefolgt von Finnisch und Russisch. Estnisch gehört zu der finnisch-ugrischen Sprachfamilie und so zählt man in Estland fast wie auf finnisch: üks, kaks, kolm.

Estland–Länderportrait

Ländername: Eesti Vabariik (Republik Estland)
Fläche: 45.277 km 2
Einwohner: 1,3 Millionen
Hauptstadt: Tallinn (430.594 Einwohner)
Amtssprache: Estnisch
EU-Beitritt: 2004
Einführung des Euro: 2011

Von Frühling bis Herbst ankern die großen Kreuzfahrtschiffe im Hafen von Tallinn. Aber auch mit dem Flugzeug kommen Reisende leicht in die estnische Metropole. Mehrere Fluggesellschaften fliegen von Deutschland aus nach Tallinn (manche mit Umstieg in Riga). Zum Beispiel Airbaltic von Berlin oder Lufthansa von Frankfurt am Main aus.

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... und Internet (für € 40,- / Mo.) ist auf 60GB Daten monatlich begrenzt, ohne Smart-Meter gibt es keinen Strom mehr, die Leute arbeiten sich für einen lächerlichen Hungerlohn einen Wolff und die Männer sterben mit durchschnittlich 71 Jahren, 10 Jahre früher wie die Frauen. Estland ist sowas wie ein vergessenes Paradies!

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