Rituelle Räume der Verbundenheit

Club-Kultur: Musikwirkung

Elektronische Tanzmusik übt eine sehr unmittelbare und starke, fast magische Wirkung auf ihre Hörer aus. Raves und Club-Events, auf denen diese Musik gespielt wird, stellen als friedvolle Gruppenereignisse ein stetig wachsendes Massenphänomen dar. Sie erlauben es den Besuchern, in tiefe Regionen ihres Erlebenspotenzials vorzudringen, welches fest im Bewusstsein verankert ist, mit dem Ziel eines befreienden und universellen Glücksgefühls. Der Artikel beleuchtet die hypnotischen Mechanismen dieser Musik.von Stefan M. Oertl

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Erkenntnisse aus der musikpsychologischen Forschung lassen darauf schließen, dass Musik einfachen menschlichen Unterhaltungsbedürfnissen entsprungen ist. Demnach entfaltet Musik die größte Wirkung, wenn sie dazu dient, dass sich Menschen zu friedvollen Gemeinschaften versammeln und in liebevoller Absicht miteinander umgehen. Ein modernes Beispiel dafür sind Raves. Elektronische Tanzmusik (im Weiteren kurz „Dance“) übt auf die Hörer eine ekstatische Wirkung aus. Das damit assoziierte Musikgenre „Trance“ ist Programm. Die tanzende Menge in Clubs oder auf Veranstaltungen im Freien verfolgt die Absicht, in einen veränderten Bewusstseinszustand zu gelangen, oft unterstützt durch die synästhetische multimediale Verbindung von Sound, Visuals, Dekos und Spektakeln wie beispielsweise Lasershows und Feuerakrobatik. Ein Rave ist ein ritueller Raum rhythmischer Verbundenheit jenseits der Grenzen sozialer Unterschiede.

Spirituelle Bewegung

Der Religionsforscher Robin Sylvan spannt in seinem Buch „Trance Formations“ den Bogen sogar so weit zu behaupten, dass die globale Rave-Kultur die Ausprägung einer neuen spirituellen Bewegung aufweise. Das verwundert nicht vor dem Hintergrund einer Jahrtausende alten weltweiten Geschichte der Sakralmusik, um die gläubige Gemeinde in eine von weltlichen Belangen gelöste Gestimmtheit einzuschwingen und ins Magische zu führen. Der Begriff „Trance“ ist vom lateinischen Wort „transire“ abgeleitet, was „Hinübergehen“ bedeutet. Es beschrieb ursprünglich den Wechsel vom Leben zum Tod.

Dance hat zum Ziel, seine Hörer unmittelbar mitzureißen und über einen möglichst langen Zeitraum hinweg nicht mehr aus seinem Griff intensivster Wirkung zu entlassen. Die psychologischen und physiologischen Mechanismen des Musik-Erlebens sind ein vergleichsweise wenig erforschtes Feld. Die Phänomenologie der Musikwirkung hingegen ist gut dokumentiert und auch häufig in der Allgemeinliteratur zu finden. Von starken Glücksmomenten und Flow, in der Psychologie ein Zustand des optimalen Erlebens, ist da die Rede. In Extremen reicht das bis zur „Ich-Auflösung“ und „ozeanischen Selbstentgrenzung“, dem Gefühl, mit der tanzenden Gemeinde zu verschmelzen oder sich sogar mit dem gesamten Universum verbunden zu fühlen.

Beim Hören von Musik bedarf es nicht selten einer längeren Eingewöhnungszeit und mehrmaligen Hörens, bis etwas gefällt. Vieles weist eine komplexe kompositorische Struktur auf und erschließt sich erst mit dem entsprechenden musikalischen Vorwissen und Training. Es ist zu beobachten, dass Dance für nahezu jeden, unabhängig einer musikalischen Ausbildung, zielgenau hochwirksam ist und seine intensiven Effekte sehr unmittelbar entfaltet. Im Laufe meiner Forschungstätigkeit zum Musik-Erleben habe ich ein schlüssiges Erklärungsmodell dafür in der Funktionsweise von Trance-Induktionen gefunden.

Trance-Induktionen

Trancen sind Bewusstseinszustände höchster Konzentration, in denen die Aufmerksamkeit fokussiert und damit begrenzt ist. Im Gegensatz zur panoramaartigen generellen Achtsamkeit kommt es so zu einer stark eingrenzten „Tunnelung“. Folgendes Beispiel soll zur Veranschaulichung dieses Prinzips dienen: Wenn man sich vollkommen auf die Erzählung seines Gegenübers konzentriert, so ist es nahezu unmöglich, gleichzeitig die Geschehnisse in der Umwelt mitzuverfolgen. Dasselbe gilt für das Lesen eines Textes oder beim Fernsehen. Man kann so jede Art von Konzentration als Trance sehen.

In einer hypnotischen Trance kann der höchstmögliche Grad an Konzentration während des Wachseins erreicht werden. Das Bewusstsein ist sehr labil oder gar nicht vorhanden. Der Spielraum willentlicher Handlungen ist stark eingeschränkt oder fehlt gänzlich. Normale Körperfunktionen sind eingeschränkt, mitunter so stark, dass der Eindruck des Tiefschlafs entsteht. Das eigentliche Gefühl, in einer Trance zu sein, ist großartig. Das ist auch der Grund, warum man unter Hypnose bereitwillig Dinge tut, die man im Wachbewusstsein unterlassen würde. Es ist befriedigend, in Trance zu sein und dem Hypnotiseur zu gehorchen. Veränderte Bewusstseinszustände, insbesondere tiefe Trancen, lassen sich im geeigneten Setting (z.B. Dance-Party) und dem passenden Set (positive Grundeinstellung und fokussierte Erwartungshaltung) sehr leicht durch den perfekt darauf abgestimmten Auslöser (Dance) hervorrufen.

Loops als Reizmuster

Der Trance-Forscher Dennis Wier schlägt ein gut auf allgemeine Situationen anwendbares Modell für den Aufbau von Trancezuständen vor. Auslöser seien schleifenartige Reizmuster, die aus einer immer wiederkehrenden Anzahl von gleichen oder ähnlichen Elementen bestehen. Trancen müssen induziert, also gestartet, und dann stabilisiert werden. Sie unterliegen weitestgehend automatisierten kognitiven Prozessen. Es braucht relativ viel Energie, um Trancen zu erzeugen und zu stabilisieren. Als schleifenartige Reizmuster dienen bei Dance die in der digitalen Musikproduktion bekannten Loops. Sie verfügen über die idealen Eigenschaften für Trance-Induktionen. Loops sind vergleichsweise wenig komplexe musikalische Gebilde. Sie können aus Melodieteilen bestehen, aus rhythmischen Elementen oder aus beidem. Die einfachste Form eines Loops bildet die Kick-Drum beim „Four to the Floor“, dem gleichförmigen Beat auf jedem Taktschlag. Eine klare Rhythmisierung dient gleichzeitig auch als Hilfestellung für die kognitive Segmentierung beim Hören.

Trancen sind sehr leicht zerstörbar. Es muss nur der sich selbst erhaltende Fokus auf sie unterbrochen oder abgelenkt werden. Es braucht allerdings recht wenig Energie, um Trancen zu erhalten, zu reaktivieren und zu vertiefen. Die weitere Vertiefung einer Trance zeitigt einen besonders intensiven Effekt. Bei der Hypnose erfolgt die Vertiefung durch die ständige Wiederholung von Anweisungen wie „Schlaf tiefer!“ sowie gelegentlich „Du wachst nun kurz auf ... und schläfst jetzt noch tiefer ...“. Dies lässt sich mit dem Einsatz von Breaks vergleichen, Störelementen im rhythmischen Gefüge. Sie unterbrechen bereits energiearme stabilisierte Trance-Schleifen kurz, um durch den Wiedereinstieg in bekannte Loop-Muster (Sequenzen direkt vor dem Break) die vorangegangene Trance zu reaktivieren und gleichzeitig zu verstärken. Das dabei erlebte Gefühlshoch ist enorm, was leicht an den Reaktionen der tanzenden Menge zu erkennen ist. Meist kommt es an solchen Wiedereintrittsstellen zu jubelndem Beifall und gesteigerten Tanzbewegungen. Bei der rhythmischen Synchronisation von Körperbewegungen zur Musik spricht man auch von einer motorischen Trance, welche fast automatisch und ohne Anstrengung entsteht. Die Spirale schraubt sich so über mehrere Trance-begünstigende Parameter weiter in die Ekstase.

Unmittelbar hochwirksame, das heißt Trance-induzierende Musik entsteht, sobald Selbstbezüglichkeiten in der Anordnung klanglicher Elemente zueinander erkennbar sind. Selbstbezüglichkeiten entstehen durch Sequenzen gleicher oder als ähnlich erkennbarer Loops. Je unähnlicher die Abfolgen der Loop-Elemente zueinander werden, desto mehr ist das sogenannte analytische Hören gefordert, welches mit herkömmlichem Lernen gleichzusetzen ist. Unerwartete musikalische oder klangliche Elemente, zum Beispiel eine neue Harmoniewendung oder eine zusätzliche Atmo, werden zuerst (unbewusst) als Störung wahrgenommen, bis sie erfolgreich ins Gefüge des Songs eingeordnet sind und zu einem natürlichen und von nun an erwarteten Element des Songs werden. Dieser Prozess entspricht der Zerstörung einer Trance und dem Wiedereintritt und einer Vertiefung mit dem Ergebnis einer intensiven Euphorie. Das Gehirn liebt Ordnung und belohnt dafür gern. Ein guter Produzent gestaltet seine Songs so, dass sämtliche Musikelemente optimal aufeinander abgestimmt sind. Das betrifft die saubere Abgrenzung unterschiedlicher Instrumente, die klare rhythmische und tonale Segmentierung durch Loops sowie die Hervorhebung bestimmter klanglicher Elemente, um die Aufmerksamkeit der Hörer gezielt zu fokussieren und zu lenken.

Im Sog

Ein sicheres Zeichen der eigenen Trance ist jenes, dass man nicht mehr aus einem Song aussteigen möchte und sich fast dazu gezwungen fühlt, ihn sich immer wieder anzuhören. Dabei kann es sein, dass man die Lautstärke beim wiederholten Hören immer höher einstellt, um die neuronale Reizaktivierung zu steigern. In einer Clubsituation erfüllt das der über lange Zeiträume ausgedehnte Dance-Mix. Ein besonderes Phänomen im Trance-Zustand ist die Trance-Logik, die, wenn man sich tief im musikalischen System befindet, klangliche Elemente und deren Zusammenspiel als die natürlichste Sache der Welt erscheinen lässt. Der pulsierende Rhythmus erscheint vollkommen „einleuchtend“, eine kurze Basslinie kann zur Offenbarung werden. Wier bezeichnet dieses Phänomen als den „Weirdness Factor“ (Seltsamkeitsfaktor). Im Grenzfall ist man in diesem Zustand frei von herkömmlichen kognitiven Funktionen, vollkommen im perfekten Moment. Und das ist ein fantastisches Gefühl!

Mehr zu diesen und ähnlichen Themen gibt es im Blog des Autors auf www.re-compose.com/blog-entries unter „Optimal Music Experience“ zu lesen.

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